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Vernakulare Architektur in der Steiermark

Am Beispiel Bauernhaus
Das Durcheinander von verschiedenartigen und sich widersprechenden Ansichten, Einflüssen und Existenzfragen, erzeugt im Alltäglichen den Wunsch nach überschaubaren Größen, um die Kontrolle über die eigene Lebenserwartung zurückzugewinnen.
Das ist in einer Gesellschaft dann möglich, wenn in Teilbereichen das Prinzip der Selbstbestimmung (Dezentralisierung) Anwendung findet, zum Beispiel die Herstellung der eigenen Wohnhülle, die überregionale Planung (Zentralisierung) aber, neben der notwendigen Erstellung der territorialen Erfordernisse, dem privaten Wirkungsbereich nur die notwendigen Grenzen mit allgemeinverbindlichen Gesetzen absteckt.
Diese Selbstbestimmung durch Dezentralisierung der Verantwortung bringt dem Einzelnen mehr individuelle Freiheit und verringert seine Abhängigkeit von nicht abwägbaren Faktoren, bedeutet aber gleichzeitig mehr Anstrengung im privaten Bereich und den Verzicht auf anonyme Dienstleistung.
Entscheidend ist es immer wieder, den optimalen Ausgleich (Wirkungsgrad) dieses Gegensatzes zu erreichen, für ein gemeinsames "Zusammen-Überleben", trotz stets veränderlicher Voraussetzungen.
Für das vergleichende Studium dieser Problemstellung am historischen, daher überschaubaren Modell, bietet sich für uns heute die agrarische Gesellschaft des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts an, deren letzte Zeugnisse bis in unsere Tage die Kulturlandschaft mitbestimmt haben und vor unseren Augen untergehen.
Als ein Teil des größeren Ganzen soll im Mittelpunkt der folgenden skizzenhaften Überlegungen das überlieferte Bauernhaus (damals Wohnhülle des überwiegenden Bevölkerungsteiles) stehen (0/1).

Baustoffe
Das Baumaterial (in der Hauptsache Stein und Holz) wurde meist aus der unmittelbaren Umgebung gewonnen (kostensparend aber arbeitsaufwendig) und mit der am Ort vorhandenen Technologie und Arbeitskraft mit einem sehr hohen Anteil an Eigenleistung verarbeitet (2/3). Nebenprodukte der landwirtschaftlichen Produktion (Stroh) wurden in das Bauen einbezogen und die Abfälle (Holzverschnitt) der Energiegewinnung zugeführt. Dieser um 1800 für die meisten auf Notwendigkeit fußende Zusammenhang (wenig Geld und ungünstige Verkehrsbedingungen) ist einer der wesentlichen Gründe für das von uns heute als "schön" nachempfundene Erscheinungsbild.
Von äußeren Zwängen (Naturlandschaft und lokale Geschichte) vorgegebene Unterschiede im Materialangebot und in seiner Verarbeitung ergaben eine überschaubare und unverwechselbare Baulandschaft (5).

Gleiche Bedingungen und gleiche Möglichkeiten für viele, ergaben im Gebauten das scheinbare Abbild einer homogenen Gesellschaft. Die dazu notwendige Arbeitsleistung, die für den Einzelnen erdrückend sein konnte (geringere Lebenserwartung) ist nicht mehr gegenwärtig und vergessen.

Unsere heutigen Gegebenheiten haben ihre eigenen Erscheinungsbilder, die gezwungenermaßen die überlieferten Bilder aufheben müssen.

Grundriss und Gestalt
Die Grundrißentwicklung des bäuerlichen Anwesens ist eng mit der Entwicklung der Produktion verknüpft und orientierte sich in erster Linie am Notwendigsten. Die dabei unter Lebensbedrohung (Verlust des Saatgutes, der Wintervorräte oder des Viehbestandes) gesammelten Erfahrungen, werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Für den Einzelnen bestimmen zuerst die Verbesserung und Weiterverwendung des übernommenen Erbes seine Handlungsweisen, um die schmale Lebensbasis nicht zu gefährden; vor diesem Hintergrund werden Neuerungen erprobt und zur Erleichterung der täglichen Arbeit, aber auch zur Steigerung des Wohnkomforts eingeführt.

Der Grundriß entwickelt sich additiv, das heißt an die jeweils bestehende Wohnhülle werden überdachte Räume angegliedert, die von Zeit zu Zeit, wenn sie sich für das Wohnen und Wirtschaften zu jeder Jahreszeit und manchmal über mehrere Generationen bewährt hatten, unter einem gemeinsamen Dach zu einem größeren Ganzen zusammengefaßt wurden (Fig.1/6/7/8).


Fig.1: Schematische Darstellung der Grundrißentwicklung; vulgo Marxbauer, Steinberg / Ligist (7).

Was wir heute als einfache, klare und naheliegende Lösung nachvollziehen, ist das Ergebnis eines, meist unter Zwang, stattgefundenen Ausleseverfahrens; der langandauernde Entwicklungsprozeß führt zu großzügigen Lösungen mit menschlichen Gesichtszügen (9/10).
Die Baugestalt der überlieferten Bauernhäuser ist ein zufälliger Ausschnitt einer dynamischen Entwicklung. Eine formale Typisierung an Hand dieser Vorbilder muß daher fragwürdig sein. Leitbilder für heutiges Bauen können aber nur aus dem Nachvollziehen der Entstehung gewonnen werden.
Der geistige Überbau der bäuerlichen Welt, der in der Volkskunst und an den Gebäuden in Symbolen und Schmuckformen seinen Ausdruck fand, wurde durch den Wunsch bestimmt, sich in eine bestehende Welt einzuordnen, sie damit überschaubar zu machen, um in ihr zu überleben.

Schmuckformen
Zwei typische Beispiele sollen aus der Fülle des historischen Materials herausgehoben werden. Der ewige Wechsel von Tag und Nacht, von Sonne und Mond, die auf- und untergehen, bestimmte im besonderen den bäuerlichen Tages- und Jahreslauf. Das Wissen um diese Abhängigkeit wurde im dekorativen Musterband, das die Bauten seines Lebensbereiches einfaßte, dargestellt (Fig.2/11).



Fig.2: Musterband

War die materielle Basis geordnet und gesichert, wurde das daraus gewonnene Selbstbewußtsein demonstriert. Man imitierte Vorbilder, die man in der Stadt gesehen hatte und setzte sie mit den vorhandenen Möglichkeiten um; die steinerne Balustrade wurde zum hölzernen Balusterbrettbalkon, das Stuckornament zum Laubsägedekor (12/13). In der Folge geriet das architektonische Vorbild in Vergessenheit, der kreative Zusammenhang ging verloren und das Nachgeahmte wurde seinerseits nachgeahmt. Der Zwischenraum der einstigen Balustrade wurde zum "niedlichen" Ornament (Herzen und Blumen) und kehrt in dieser Form heute "rustikal" als sentimentale Urlaubserinnerung in die Stadt zurück, als Nachahmung der Nachahmung einer Nachahmung (Fig.13/14).


Fig.3: Entwicklung der Muster an den Balkonbrüstungen

Schlussbemerkungen
Ausgelöst durch die Industrialisierung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich auch die landwirtschaftlichen Produktionsweisen entscheidend verändert. Die vorindustrielle agrarische Gesellschaft gehört heute endgültig der Vergangenheit an.

Sehr oft wird der Wunsch der "Gebildeten", die überlieferte Erscheinungsform der Häuser mit ihren oberflächlichen, scheinbar ästhetischen Reizen als Kulisse zu kultivieren und zu erhalten, nur von der Verklärung eigener Kindheitsbilder bestimmt. Das Recht der tatsächlich Betroffenen (Bewohner) nach gesteigerter Wohnkultur und angemessener Hygiene wird dabei übersehen; sie werden als Statisten für die romantischen Schäferspiele einer Freizeitgesellschaft mißbraucht.

Das sinnlose Zerstören und das Vergessen der traditionellen Bau- und Wohnkultur bedeutet aber für die Gesellschaft eine Verarmung und die Verschwendung einer jahrhundertelangen Aufbauarbeit.
Der Besitz einer gemeinsamen Vergangenheit und das Bewußtsein darüber sind eine wesentliche Dimension der menschlichen Existenz (Kultur). Das Wissen um diese Vergangenheit darf aber nicht dazu dienen, notwendige Lebensprozesse einseitig aufzuhalten und abzuwürgen.

Das sorgfältige Studium der gewachsenen Kulturlandschaft soll uns aber bei der Lösung der heutigen Aufgaben eine unversiegbare Quelle des Schöpferischen sein (15/16/17).

Holger Neuwirth/Veröffentlicht im Sterz Nr.9-2/1979

 

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